5 heilsame Schritte für den Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit
Esther Guggisberg
Seit ich halbwegs zusammenhängend denken kann, fasziniert mich der menschliche Geist, das Menschsein an und für sich. Alles, was damit zusammenhängt, warum wir sind, wie wir sind und tun, was wir tun. Ich beobachte die Menschen, mich, suche nach Zusammenhängen und Erklärungen und werde wohl auch nie damit aufhören. Es ist einfach zu spannend.
Gerade weil es seit jeher mein Thema war und es mich auch heute noch immer wieder (be)trifft, ist das Ergründen und Auflösen von Selbstsabotagemustern mein Spezialgebiet geworden.
Warum wiederholen wir immer dieselben Geschichten?
Wie kann es sein, dass Menschen wertvolle Chancen in den Wind schiessen?
Warum haben wir so grosse Angst vor dem Leben?
Wenn ich uns allen zuschaue, habe ich immer wieder das Bild vom Spiessrutenlauf im Kopf. Manchmal ist es auch ein Spazieren über die Blumenwiese aka Minenfeld – die einen schleichen eher, andere hüpfen immer noch. Ja, tatsächlich. Oder hüpfen wieder 😉
Wenn wir uns auf andere Menschen einlassen – das können berufliche und freundschaftliche Verbindungen sein und insbesondere partnerschaftliche – machen wir uns verletzbar. Sich zu öffnen, bedeutet unentwegt, einen Teil von sich preiszugeben, der dieses unendlich schöne Gefühl von Verbundenheit und Geborgenheit entstehen lässt. Und gleichzeitig werden wir angreifbar.
Wer sich öffnet, wird verletzbar. Blicke, Worte, Gesten und Verhaltensweisen des Anderen können uns mitten ins Herz treffen. Innert Sekundenschnelle ziehen wir daraus Rückschlüsse auf uns, stellen Zusammenhänge her und reagieren mit dem gewohnten Abwehrmechanismus. Wir frieren ein (dissoziieren), greifen den anderen an, versuchen, zu verhandeln oder laufen davon. Meist geschieht das, noch bevor wir klar denken konnten. Die emotional verknüpften Muster sind einfach zu schnell.
Manchmal sind auch wir diejenigen, die vorgreifen. Das Misstrauen in uns und andere führt dazu, dass wir testen. Wir testen, wie weit wir gehen können, was der andere aushält, ob er uns aushält, ob er hält, was er verspricht und so weiter.
Diese Spiele sind ohne Ende anstrengend. Von aussen betrachtet oft auch unnötig, sinnlos, kräftezehrend. Und doch werden sie gespielt. Alles, um sich selbst das bisher Geglaubte zu beweisen.
Denn darum geht es vorrangig. Wir suchen unentwegt im Aussen nach Bestätigung unseres Selbst- und Weltbildes. Wir erkennen das, was wir erkennen wollen. Und wenn es sich bestätigt, dann springt unser Belohnungszentrum an: «Ha, ich wusste es.» oder «Stimmt, so war es schon immer.» – impliziert: so wird es immer sein.
Komfortzone eben.
Ist es ungewohnt, neu, anders – selbst, wenn wir uns das immer wieder gewünscht haben – wird es unangenehm. Glaub mir, oder auch nicht. Ungewohnt bedeutet unbekannt = Risiko und potenzielle Gefahr.
Niemand wird gerne verletzt. Es kann sogar sein, dass wir nicht einmal mehr berührt werden wollen (emotional, physisch). Aufgrund der Möglichkeit, dass das Berührt Werden alte Sehnsüchte aufleben lassen würde. Diese tief darunterliegenden Wünsche und Träume, die uns manchmal den Schlaf rauben, in Tagträumen aufblitzen, die Melancholie und ein Ziehen im Herzen auslösen.
Und doch – ich wiederhole mich gerne – Verletzlichkeit ist der Preis, den wir für tiefe Nähe, Verbundenheit, Intimität und gemeinsames Wachstum zahlen.
Verletzlichkeit macht weich. Und für manche vielleicht schwach. Schwäche ruft in uns Scham hervor. Nicht gut genug zu sein, ausgelacht, verachtet, ausgestossen, vielleicht sogar verdammt zu werden. Scham ist der kleine Bruder der Verletzlichkeit und will immer mit dabei sein.
Was hilft bei Scham? Oh, du wirst es wahrscheinlich nicht gerne hören. Offenheit, Kommunikation, dich zu zeigen. Dort, wo du spürst, dass du gewürdigt wirst (dazu später mehr). Scham entsteht im Versteckten, in Dunkelheit, im Geheimen. Teilen wir uns mit und erkennen, dass es dem Anderen genauso geht, löst sie sich auf.
Es braucht ungeheure Selbstdisziplin, eine Situation auszuhalten, die Risiken in sich birgt. Alles in uns will weg. Wir wollen Sicherheit, Stabilität, Zuverlässigkeit, Schutz. Auch wenn dies bedeutet, im alten Trott zu bleiben. Das kennen wir, das können wir.
Kommt dir das bekannt vor?
Also, und was hilft?
1. Achtsamkeit und Bewusstheit
Hier setzen wir mit Achtsamkeit und Bewusstheit an. Bereits wenn du deinen Fokus in deinen Körper lenkst, kannst du erkennen, was gerade geschieht. Unangenehm heisst nicht zwangsläufig böse oder schädlich.
Wie fühlt es sich im Körper an?
Welche Emotionen werden dadurch ausgelöst?
Und welche Gedanken?
Woran erinnert dich das?
Das Körpergefühl in Verbindung mit bewusster Atmung hilft uns, «hier» zu bleiben. Hier im Moment. Und nicht komplett gedanklich in den Film der Vergangenheit, in altes oder potenziell mögliches Drama oder gar Selbstsabotagemuster abzudriften. Lasse zu, was es auslöst, aber bleibe hier.
Wenn wir aushalten, atmen – und bestenfalls im wingwave-Coaching über die Augenbewegungen oder im Selbstcoaching übers Klopfen die Emotionen körperlich verarbeiten – klingt das Stressempfinden, der Druck, das Unangenehme ab. Unser Körper gibt Feedback. Doch es ist nicht immer die gegenwärtige Situation, die es auslöst, denn mehr die damit verbundene(n) Erinnerung(en).
2. Würdigung und Anerkennung
Bleiben wir somit im Moment, geschieht etwas unglaublich Wertvolles. Wir würdigen unsere Empfindung. Würdigen bedeutet, etwas wertzuschätzen. Deinen jetzigen Zustand, das, was es in dir auslöst. Und auch der Mensch, der du bist. Warum du jetzt und hier an diesem Punkt stehst. Vielleicht gelingt es dir dadurch sogar, Zusammenhänge zu erkennen. Zu erkennen und anzuerkennen führt zu mehr Anerkennung für sich selbst. Diese wichtige, so unglaublich entscheidende Ressource ist ein weiterer Schlüssel zu Authentizität. Sei ehrlich zu dir und somit ehrlich zum anderen. Dein jetziges So-Sein zu akzeptieren und zu würdigen, heisst im Weiteren auch, dass du dich zumuten kannst. Du kannst und darfst so sein, wie du bist. Das geht in Resonanz mit dem Gegenüber. Wer dich wertschätzt, macht sich würdig.
3. Vertrauen und Verantwortung
Was brauchst du jetzt gerade?
Diese Frage stelle ich oft und gerne. Denn sind wir verzweifelt und am «Drehen», steht alles, was unangenehm ist, im Vordergrund.
Frage dich stattdessen, was du brauchst. Und damit meine ich eigentlich immer eine innere Ressource. Ein Gefühl, ein Zustand, ein bekräftigendes Bild. Denn damit verbunden ist einer der wichtigsten Aspekte überhaupt: Vertrauen.
Sobald wir uns annehmen, sogar würdigen und anerkennen, was gerade ist, passiert in uns die Transformation, die Alchemie. Aus dem steinernen Herzen wird pures Gold. Sich selbst vertrauen zu können, ist wohl das schönste Geschenk, was wir uns machen können. Sich selbst zu vertrauen, bedeutet:
- ich nehme mich wahr und nehme mich ernst
- ich weiss, dass ich damit umgehen kann
- ich bleibe bei mir (impliziert: ich verlasse mich nicht / dissoziiere nicht)
Und somit übernehmen wir die Verantwortung für unseren eigenen Zustand wie auch für den Umgang mit neuen Möglichkeiten. Erst wenn wir uns selbst vertrauen und die Verantwortung übernehmen, können wir dem Gegenüber vertrauen.
Verdammt wichtige Anmerkung am Rande: Im Augenblick, wo du erkennst, dass dein jetziger Zustand nichts mit der gegenwärtigen Situation, sprich der Person, die es angeblich ausgelöst hat, zu tun hat – wichtig – befreie sie von dieser Verstrickung. Mache dir klar, ja mache dir richtiggehend bewusst, dass diese Person sehr wahrscheinlich überhaupt nichts dafür kann.
4. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: deine Rolle(n)
Jeden Tag schreibst du an deiner Geschichte. Jeden Tag entscheidest du, in welcher Rolle du verharrst oder neu aufblühst, wer neben und mit dir spielen und erleben darf. Gemeinsam entscheidet ihr, was euer Thema ist und was ihr co-kreiert.
Unbewusst reproduzieren wir, was wir kennen. Und glaub mir, es ist echt nicht leicht, diese Muster zu durchbrechen (siehe Belohnungsmechanismus ganz am Anfang). Und dennoch gelingt es. Es gelingt, indem du deine Möglichkeiten ausschöpfst. Indem du regelmässig die oben genannten Schritte – und weitere Achtsamkeitsübungen – durchführst.
Und natürlich: indem du deine Rolle neu definierst.
Wer bin ich und wer will ich sein?
Was ist meine Geschichte und wo soll sie hinführen?
Was gibt mir Drama? Und was könnte mir eine (Liebes)Komödie geben?
Wie wäre es, wenn ich mich in meine Möglichkeiten, mein neues Leben verlieben würde?
5. Geduld, Mut und ihr Lohn: die Liebe
Ich geb auf. Was soll’s. Ist doch mega anstrengend. Was meinst du, wie oft ich schon an diesem Punkt stand?
Und dann mache ich es doch wieder. Dann liebe ich mich eben doch wieder genug und schaue hin, lasse zu, nehme an und bleibe offen.
Geduldig üben wir, was es heisst, zu fühlen und hier zu bleiben. Auf die Metaebene zu wechseln und zu erkennen, worum es geht. Bewusst zuzulassen, was an Emotionen und altem Ballast hochkommt, und somit loszulassen. Das Vakuum zieht Neues an. Glaub mir, verlässt du dein Drama, bleibt es nicht leer. Du ziehst an, was als Nächstes ansteht. Dein Geist, dein Herz will immer weiter. Und ganz banal, dein Gehirn konstruiert sowieso. Also füttere es mit dem, was du wirklich willst.
Mutig bist du bereit, zu fühlen. Zu akzeptieren, dass Schatten, Trigger, alte Verletzungen und Missverständnisse ausgelöst und somit endlich geklärt werden können. Mut hilft dir, trotz Angst vor weiteren Verletzungen, offen zu bleiben.
Vielleicht macht es dich einen Moment lang auch traurig. Du nimmst Abschied von einem alten Teil von dir, von etwas, was dir vertraut ist, dir gedient hat. Doch es hat dich isoliert und es dient dir nicht mehr, sondern hält dich davon ab, dich tiefer auf dich selbst einzulassen, auf das, wonach du dich immer gesehnt hast.
Denn allem zugrunde liegt das Wertvollste, was es in diesem Leben gibt. Die Hingabe an das, was du im Aussen siehst und dadurch im Innen erkennst. Liebe. Pure, reine Liebe.
Öffnest du dein Herz, wird sie möglich. Und du wirst verletzbar.
Verschliesst du dein Herz, bleibt sie ein Gedanke.
«Ich habe es versucht und es hat nicht funktioniert.» magst du mir vielleicht sagen.
Ich leg den Arm um dich und antworte: «Ach, weisst du, lass uns gemeinsam etwas Zeit verbringen. Ich bestell uns mal zwei Drinks.»
In tiefer Liebe und Verbundenheit.