Bin ich gut genug?
Zwischen Selbstoptimierung und Selbstakzeptanz
Esther Guggisberg
Ich bin als Coach und Trainerin tätig. Bereits diese Branche impliziert, dass sich hier alles um Verbesserung und Optimierung dreht. Coaches werden dazugeholt, wenn etwas Anderes / Neues / Besseres erreicht werden soll. Wir sind dazu da, zu begleiten und nach ressourcen- und lösungsorientiertem Ansatz zu einem optimalen Ergebnis zu verhelfen. Probleme nennen wir liebevoll Herausforderungen, da dies mental-emotional weniger belastet ist – NLP sei dank.
Gut, so viel dazu.
Vergleichen und der Selbstoptimierungswahn
Es ist ein Trend geworden, an sich und allem rumzubasteln. Sich selbst unter dem Mikroskop zu beobachten, kontrollieren und optimieren zu wollen. Da wir mittlerweile noch stärker von uns selbst abgelenkt und zum Vergleichen verführt werden, gibt es permanent etwas, das wir noch verbessern könnten – am Aussehen, der Gesundheit, der Ernährung, der Persönlichkeit, den Denk-/Fühl-/Verhaltensmustern, der Beziehung, der Arbeit, der Freizeit, der Welt. Grundsätzlich ist das nicht falsch. Doch dazu später mehr.
Und ich möchte es noch einmal deutlich betonen: wir werden abgelenkt. Wir werden permanent von uns selbst abgelenkt. Doch nicht etwa dadurch, dass wir den authentischen Einblick in andere Leben erhalten, die uns das Gefühl geben: «Ah, bei denen ist das auch so.» «Hey, ich bin gut, du bist gut, alles easy.»
Wir sehen die geschönten und gewollten Ausschnitte – auch wenn gewollt authentisch – und unser Gehirn denkt sich automatisch den Rest dazu. Du kennst das, wenn es dir gut geht, dann berührt es dich weniger, wenn dir andere ihr geiles Leben ins Gesicht drücken. Du freust dich sogar mit, weil hey, bei dir läuft’s auch grad super. Was aber wenn du dich gerade nicht so gut fühlst, wenn du rumstudierst, was alles bei dir nicht okay ist und siehst, wie das alle – ja natürlich ALLE – anderen im Griff haben. Dann schleichen sich alte Bekannte in deinen Geist. Vergleichen führt automatisch zu Minderwertigkeitsgefühlen. Im Vergleichen gibt es eben selten ein «Gleich». Es gibt meist nur ein «Besser» oder «Schlechter». Das liegt an unserem Bedürfnis, zu bewerten. Wir bewerten automatisch und schon landen wir über oder unter der Messlatte. Selbst wenn wir uns für besser halten, haben wir verloren. Wir verlieren Verbindung. Wir trennen uns von den anderen.
Und wenn wir uns als schlechter ansehen, dann trennen wir uns nicht nur, wir fühlen uns auch weniger gut, weniger wert. Das Gefühl von Minderwertigkeit ist eng verbunden mit Scham (ich bin nicht gut genug), Schuld (ich mache es nicht gut genug), es schmerzt, macht traurig, macht hilflos und ängstlich. Wenn wir darin nicht feststecken wollen, werden wir wütend, aggressiv, dann missgünstig und frustriert. Mega schön, oder?
Der Frust der vergleichenden Leistungsgesellschaft. Man ist NIE gut genug. Weil es das «gut genug» nicht gibt. Somit braucht es die Lösung für dieses Paradoxon. Nämlich zwei Ebenen, zwei Sichtweisen.
Verbessern als menschlicher Evolutionsdrang
Es ist echt schwierig, nicht zu bewerten. Genauso wie wir nicht gar nichts verbessern können. Weil es ganz einfach zum Menschsein gehört. Es ist evolutionsbiologisch absolut sinnvoll, immer wieder etwas zu optimieren. Schau dich um. Deswegen gibt es all diese Geräte, all den Komfort, die Möglichkeiten. Sie wurden ge- und erschaffen. Ob Fluch oder Segen darfst du gerne selbst bewerten – ist nämlich absolut situations- und bedürfnisabhängig. Weiter haben verbesserte Gesundheitsbedingungen deutlich unsere Lebenserwartung verlängert.
Was für mich aber eines der spannendsten Themen darstellt, ist die Auflösung negativer wirklich schädlicher Muster im Zwischenmenschlichen. Deswegen bin ich Coach. Traumata, physische und psychische Gewalt, emotionaler Missbrauch, Vernachlässigung, Missbilligungen usw. All das kann endlich bearbeitet werden, da wir nicht mehr ständig unter Krieg und existenzbedrohender Armut leiden. Unsere Generation ist dazu aufgerufen, diese alten Wunden ausheilen zu lassen, so dass unsere Kinder nicht mehr darunter leiden, sondern bald noch mehr Wunder- und Liebevolles erschaffen können.
Du spürst, dass auch du immer wieder Lust hast – oder auch dich getrieben fühlst – etwas zu verbessern. Diese endgeniale Anfangsenergie, wenn wir uns so einem (Optimierungs-)Projekt widmen. Es ist auch normal, dass nach kurzer Zeit die Euphorie verfliegt und sich die alten Gewohnheiten wieder einschleichen. Kurze Info am Rande: 21 Tage, um eine neue Gewohnheit zu installieren, ca. 3 Monate um sie zu stabilisieren.
Wir dürfen an uns arbeiten. Wir dürfen unsere Gesundheit, unser Aussehen, Muster, Lebensbereiche usw. verbessern wollen. Wie viel Konstruktives, Liebevolles, Schönes, Kreatives und Wundervolles darf daraus entstehen.
Doch vergiss dabei bitte eines nicht.
Dein unberührbarer Wert – die andere Ebene
Egal, ob und wie viel du an dir und an allem um dich herum arbeitest: du bist unendlich wertvoll. Du bist liebenswert, egal, ob du noch etwas schöner, bewusster, fitter, erfolgreicher, younameit – oder eben doch nicht – bist.
Ich weiss, dass es herzlich wenig bringt, wenn ich dir das jetzt so hinlege, ohne dass du das vielleicht selbst fühlst. Und doch weiss ich, dass, wenn du es liest, du dir dessen stets mehr und mehr bewusst werden kannst.
Unser Wert ist unantastbar und hat nichts damit zu tun, was und wie viel wir leisten. Für mich ist das einer der wohl wichtigsten Ansätze, die neu und immer wieder in unser Bewusstsein fliessen dürfen. Wie viele Menschen zerbrechen an (Über-)Forderungen und Leistungsansprüchen. Wie sehr überreizen wir damit innere und äussere Ressourcen. Die Leistungsgesellschaft versagt dort, wo es um ein konstantes Mehr und Besser im Zusammenhang mit Wert geht. Oder anders ausgedrückt, alles ist zyklisch, kreis-/spiralförmig. Das Leben, die Welt – wir sind keine stetig steigende Leistungskurve.
Wenn der Kreis sich dreht, sich die Zyklen wandeln und du dich entwickelst, tangiert das nie deinen inneren Wert. Denn egal, wo du stehst, du bist unendlich wertvoll. Dein Wert ist gegeben und er hängt nicht von deiner Leistung, Entwicklung, Veränderung ab. Dessen darfst du dir bewusst werden.
Ich würde dir nie raten, so zu bleiben, wie du bist. Auch nicht, obwohl ich dich genauso super finde. Du darfst dich selbst sein und du darfst dich entwickeln. Es ist eine unglaublich spannende Reise, wenn wir mehr wollen, mehr von uns und mehr vom Leben. Ziele zu haben, etwas erreichen zu wollen, ist motivierend. Und auch macht es die Reise selbst aus, der Entwicklungsweg hin zu …, der uns prägt, uns bewusster und weiser macht.
Wenn ich dir etwas raten darf, dann: Lerne dich kennen, öffne dich für die Möglichkeiten, die Schönheiten und Veränderungen dieses Lebens. So erkennst du auch mehr von dir. Spüre, dass du okay bist, auch wenn im Aussen nicht immer alles okay ist. Du bist unendlich liebenswert. Gib dir die Erlaubnis, dich gern zu haben, egal, was rundherum sonst noch ist. In dir liegen Schätze begraben, die nur darauf warten, von dir gesehen, geliebt und gelebt zu werden. Manchmal braucht es Arbeit, etwas Zeit und Geduld. Manchmal lediglich deine Aufmerksamkeit und Hingabe. Bleibe offen und freue dich darauf, deinen Beitrag zu leisten und mehr von dir zu geben – immer im Bewusstsein, wie wertvoll du bist.