Der Mythos und die Kraft von «Aschenbrödel»
Esther Guggisberg
Es ist wieder soweit. Und ich freu mich immer noch genauso fest wie vor 20 Jahren (der Film feiert übrigens schon sein 45. Jubiläum). Aschenbrödel kommt im Fernsehen, jaaaaa!
Weil ich nicht anders kann und ich das bei allem Möglichen tue, habe ich mich letzthin beim Haarewaschen gefragt, ob das mit dem Aschenbrödel eigentlich auch so eine Impfung ist wie all die Disney- und sonstigen Hollywood-Programmierungen. Finde ich Aschenbrödel so toll, weil sie ihren Prinzen bekommt?
Ich glaub, das mit dem Prinzen hat mich als 5-Jährige noch kaum interessiert. Aschenbrödel ist in dieser Verfilmung eine der wohl bezauberndsten Filmfiguren meiner Kindheit. Nicht nur, dass sie eine wunderschöne Frau mit einer unglaublich mystischen Ausstrahlung ist, sie hat auch echt viel Kraft. Sie ist es, die mich in ihren Bann gezogen hatte. Denn während man den ganzen Film über an ihrer Seite ist, übertragen sich ihre Kraft und ihr unbändiges Selbstvertrauen auch auf die Zuschauer.
Handlung und Symbolik
Wir treffen auf sie in einem Lebensabschnitt, indem sie schon viel hinter sich hat – sie wurde zur Vollwaise und durch ihre böse Stiefmutter zur Magd degradiert. Der dunkle Aspekt der Mutter hat in ihrem Leben überhand genommen. Doch sie ist schlau und weitsichtig, hat sie sich doch ihre liebsten Schätze versteckt aufbewahrt – Schmuck und kleine Habseligkeiten als Erinnerungen an den Archetypen der guten Mutter. Sie weiss, dass ihr diese Kostbarkeiten und die tiefe innere Sehnsucht Kraft geben. Daran hält sie fest, egal welche Widrigkeiten sich ihr in den Weg stellen.
Ihre Gefährten zeigen sich in Form von Tieren: die Tauben, die ihr ohne zu zögern zu Hilfe eilen und sie bei den Aufgaben unterstützen. Der Hund Kasperle verkörpert den Instinkt, Spieltrieb, doch auch das Gebundensein an den Hof. Ihr Pferd Nikolaus ist das, was ihr von ihrem Vater geblieben ist – Stärke, Schutz, Schnelligkeit und Wendigkeit. Die Eule Rosalie nimmt den Platz der weisen Alten, der Grossmutter, ein. Sie ist Hüterin des Schatzes und steht Aschenbrödel bei wichtigen Entscheidungen zur Seite. Später führt sie – sehr elegant im Kreise drehend *kicher* – den Prinzen zurück zum wahren Aschenbrödel.
Aschenbrödel ist gut eingebettet in das Hofleben. Sie lebt bei und mit den Bediensteten, obwohl sie eigentlich zu einem anderen Stand gehört. Sie wird von allen geschätzt und gemocht, doch auch um ihr Schicksal bemitleidet. Der Kutscher ist ihr ein treuer «Onkel» und versucht sie stets aufzumuntern – jedoch ohne grosses Risiko, da er sich selbst nicht in Schwierigkeiten bringen will.
Obwohl die Bediensteten sich zum Schluss des Films über Aschenbrödels Aufstieg freuen, wäre es spannend zu wissen, wie sich die Verhältnisse danach entwickelt hätten. Selten wollen die Menschen, bei denen wir in Trübsal weilen, unseren Aufstieg von unten betrachten. Und nur zu oft ziehen sie uns mit Mitleid, dem Gewohnten und ihrer Hoffnungslosigkeit wieder zu sich zurück.
Und die Neider und Missgünstigen, die kennen wir doch alle. Menschen, die auf unser Leben blicken und das Gefühl haben, ihnen würde unser Erfolg auch guttun oder unser Mann auch stehen. Dabei vergessen sie, dass der Schuh nicht passt; dass es nicht nur schmerzt, wenn man sich reinzwängt, sondern dass es auch noch unschön aussieht. Die Stiefschwester steht für den eigenen inneren dunklen Teil in uns, der aus Angst, leer auszugehen, und mit fehlendem Anstand, nimmt, was er kriegen kann. Doch was lernen wir daraus? Nimm anderen nicht ihren Schuh weg, sonst landest du im gefrorenen See und holst dir eine Erkältung.
Die Liebesbeziehung als Transformation
Die sich entwickelnde Liebesbeziehung zum Prinzen zeigt vordergründig die Handlung des Films. Doch die wahre Geschichte ist die Reifung und Ermächtigung eines Mädchens zur starken Frau.
Aschenbrödel ist gebeutelt von ihrem Schicksal, doch sie lässt sich nicht unterkriegen. Sie trägt ihr Haupt hoch und geht das Risiko ein, dafür bestraft zu werden. Sie verfügt über einen inneren Reichtum, denn sie hat Träume und Sehnsüchte. Sie spürt, dass das Leben mehr zu bieten hat und sie bleibt trotz Herausforderungen guter Dinge. Diese innere Stabilität und der eigene Rückhalt nennen wir heutzutage Resilienz.
Die Haselnuss steht symbolisch für Lebenskraft und Fruchtbarkeit. Mithilfe der Zaubernüsse stehen ihr äusserliche Gewänder zur Verfügung, die ihr durch die innere Transformation verhelfen.
Im Kontakt mit dem Prinzen wird sie an ihre eigenen Aspekte und an Archetypen herangeführt. Das freche Mädchen, welche sich mit dem Prinzen und seinen Freunden anlegt, steht für Unschuld und Naivität, genauso wie für Herausforderung und Mut – schliesslich klaut sie des Prinzen Pferd. Der junge Jäger, der eine ganze Horde Männer beeindruckt, beweist ebenfalls Mut und zeigt, dass sie ihren Mann stehen und bei Herausforderungen einen kühlen Kopf bewahren kann. Dann die geheimnisvolle Prinzessin, die auf dem Ball alle Anwesenden verzaubert und sich die Liebe des Prinzen sichert… Doch die erblühte Weiblichkeit gibt sich nicht so leicht hin. Erst gilt es für den Prinzen, das Rätsel zu lösen. Nur wenn er versteht und weiss, dass sich in seiner zukünftigen Frau viele Aspekte vereinen und diese auch zu respektieren sind, erscheint sie in ihrem Hochzeitskleid und ist zu einem Ja bereit.
Das Aschenbrödel, das zur Prinzessin wird, ist bereit, sich transformieren zu lassen. Sie stellt sich den Herausforderungen, nimmt die archetypischen Aspekte in sich auf und willigt schliesslich ein, in der Verbindung vom Männlichen und Weiblichen ihrem Herzen die Krone aufzusetzen.
Ich freue mich. Wie jedes Jahr. Unser Aschenbrödel 🙂
Sendetermine 2020: