Hochsensibilität gibt es nicht
Eine Liebeserklärung an HSP
Esther Guggisberg
Dieser Titel mag dich in erster Linie irritieren, vielleicht sogar vor den Kopf stossen. Um ihn verstehen und nachvollziehen zu können, erkläre ich dir gerne meinen Standpunkt.
(Hoch-)Sensibilität ist in der Persönlichkeitsentwicklung ein wichtiges Thema. Nicht nur bei mir selbst führte die Auseinandersetzung damit vor vielen Jahren zu einer Entlastung. Auch viele meiner Klientinnen und Klienten profitieren in meinen wingwave-Coachings und den Kursen von der Verarbeitung der Sinnesreize, dem Zuordnen verschiedenere Empfindungen und Emotionen, der Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Dennoch möchte ich die Bezeichnung «Hochsensibilität» kritisch hinterfragen. Ich kann sehr gut nachvollziehen, dass der Begriff oder die (Selbst-)Diagnose eine Erleichterung darstellen kann. Mit den Sinnen überaus vieles wahrzunehmen, Stimmungen anderer Menschen zu erspüren, Zusammenhänge körperlich zu erleben, mitfühlend und sensitiv auf Umwelt, Menschen und Natur zu reagieren – das alles ist für mich seit eh und je Normalität und gehört im bewussten Erleben zu einer gesunden Lebensweise. Da wir aber in einer Gesellschaft leben, die das (noch) nicht als normal ansieht, fühlen sich «Hochsensible» unpassend, ungenügend oder schwach und flüchten zu gerne in die Ecke, etwas «Besonderes» oder gar «Besseres/Höheres» zu sein. Dieser Schritt zur Abgrenzung kann vorübergehend entlasten – was ich wirklich auch verstehen kann. Gerne möchte ich aber mit dir weitergehen und die Thematik in der Tiefe beleuchten.
Dissoziation
Unser Gehirn verarbeitet ständig eine unglaubliche Vielzahl an Eindrücken (Sinnesempfindungen), gleicht sie mit Bekanntem ab, speichert ab, generiert Emotionen und Überlegungen, gibt Impulse zu Reaktionen oder zu deren Unterdrückung. Das alles ständig und meistens unbewusst.
Wir können nicht alles jederzeit bewusst wahrnehmen, sonst würden wir uns kaum mehr bewegen geschweige denn etwas entscheiden können. Um Speicher zu sparen oder um einen Schutzmechanismus zu aktivieren, schaltet unser Gehirn bestimmte Eindrücke vom Bewusstsein weg.
Beispiele für Dissoziationen im Alltag:
- Beim Warten auf den Bus nehmen wir nicht wahr, wer neben uns steht.
- Während einer sportlichen Hochleistung blenden wir körperlichen Schmerz aus.
- Lesen wir konzentriert ein Buch, merken wir nicht, wie die Zeit vergeht.
- Essen und dazu am PC weitertöggelen (was ich jetzt gerade tue – was habe ich schon wieder gegessen…?)
Dissoziation bei Trauma
Dann gibt es traumatische Situationen (Gewalt, Missbrauch, Unfall, Krieg usw.), die uns so stark «einfahren», dass wir (unser Verstand, das Bewusstsein) sie nicht zuordnen, geschweige denn richtig verarbeiten können. Unser System ist im Fight-Flight-Freeze-Modus (Kampf-Flucht-Totstell-Modus) und nur noch auf Überleben aus. Der Hippocampus, die Schalt- und Verarbeitungszentrale unseres Gehirns, lässt die Flut der Eindrücke rein, sie werden nicht zugeordnet und nicht «sauber» als Erinnerung abgelegt. Teilweise ist das Trauma so überwältigend – gerade in der Kindheit – so dass wir dissoziieren. Wir schalten ab. Das Erlebnis wird einfach im Bewusstsein gelöscht, so dass wir uns nicht mehr erinnern können. Die Eindrücke sind ohne Verbindung zum Bewusstsein ins Unterbewusstsein gerutscht.
Im Unterbewusstsein vorhanden können sie uns jedoch zum Beispiel in Albträumen heimsuchen, als psychosomatische Beschwerden belasten oder in ähnlichen Situationen getriggert d.h. ausgelöst werden. Die Eindrücke, dazugehörige Körpersymptome und Emotionen warten sozusagen darauf, zu Ende verarbeitet zu werden.
Anhaltende Traumata oder die Weitergabe transgenerationaler Traumata (siehe weiter unten) können unsere Gehirnbildung massgeblich beeinflussen, schädigen und beispielsweise zu Affektregulationsstörungen führen, d.h. hohe Emotionalität, Instabilität und Mühe bei der Impulskontrolle. Kommt das jemandem bekannt vor? Also mir nicht 😉
Zwischen Alltagsdissoziationen und Traumata
Im Alltag sind wir heutzutage mehr denn je einer Flut von Eindrücken ausgesetzt. Überall mediale Dauerbeschallung und -bebilderung, Begegnungen, Blicke, Gesten, Berührungen, Kontakte. Um damit umgehen zu können, entziehen wir uns entweder oder stumpfen ab. Wir blenden aus, um damit klarzukommen. Das kann sogar soweit gehen, dass wir hilfesuchende Menschen um uns nicht mehr wahrnehmen. Wir nehmen weder weinende noch lachende Gesichter wahr, weil wir einfach müde und erschöpft sind und bereits zu viel aufgenommen haben. Wir spalten uns ab von unseren Gefühlen, von Körperempfindungen, von Bedürfnissen und wissen nicht mehr, wie es uns geht, was wir brauchen und was uns gut tut.
Nachrichten bringen nur negative Informationen; wir stumpfen ab. Sie zeigen abschreckende Bilder; doch wir stumpfen ab. Wir schauen Thriller und Horrorfilme – und stumpfen dabei ab. Für mich sind das unbewusste «Alltagstraumata»; manchmal traumatisieren uns diese Erlebnisse sogar merklich. Doch bleiben sie meist verdrängt, abgewürgt – dissoziiert.
Wenn man sich überlegt, dass viele Generationen zuvor Folter und Hinrichtungen öffentlich stattgefunden haben – übrigens heutzutage noch in einigen Ländern – kann man nur ansatzweise erahnen, was das mit einer Psyche macht. Dass sich das erst über Generationen hinweg «auswäscht» und wir überhaupt erst einen Umgang damit finden müssen.
Transgenerationale Weitergabe von Traumata
Traumata, die einer oder mehreren Generationen vor uns zugestossen sind und nicht verarbeitet wurden, können als Muster an uns weitergegeben werden. Verdrängte Körpersymptome und Emotionen (z.B. Angst, Schuld, Scham, Ohnmacht, Wut) werden in einem Verhaltensmuster (unausgesprochen) oder in Glaubenssätzen (ausgesprochen) weitergegeben. Auch hier wurde der Ursprung dissoziiert und die Wunde ist unverheilt doch abgestumpft.
Kriege haben auch unsere Vorfahren geprägt. Und Krieg gibt es immer noch auf dieser Welt. (Darüberhin-)Wegschauen bringt nichts. Die Muster der Gewalt ziehen weiter.
Ein Kind, das traurig ist, weint und schreit und dafür geschlagen wird. Körperliche, emotionale, mentale Gewalt und Missbrauch, Isolation, Vernachlässigung, Abwertung, Bestrafung. Solche Muster und Verhaltensweisen, die «Hochsensible» unter uns als gewaltsam, brutal, roh, gemein, rücksichtlos und beschämend bezeichnen würden, werden einfach weitergegeben – weil man’s nicht anders kennt und nicht hinterfragt.
Deswegen frage ich:
Wenn hochsensibel nicht die «Norm» ist, ist dann vorher Geschildertes «normal»?
Hochsensibel oder traumatisiert?
Viele Menschen, denen Schlimmes widerfahren ist, die dies jedoch verarbeitet haben oder am verarbeiten sind, bezeichnen sich als hochsensibel. Weil sie viel spüren, sehr viel wahrnehmen, die Atmosphäre im Raum spüren, andere «lesen» können und vielleicht sogar Handlungen «voraussagen» können.
Für mich ist das allerdings keine aussersinnliche Gabe.
Wir alle sind von Grund auf empathisch dank den sogenannten Spiegelneuronen, den Nervenzellen, die für Empathie- und Lernfähigkeit durch Kopieren zuständig sind. Speziell Menschen, die in einem Umfeld von Stress und Gefahr aufgewachsen sind, sind aufmerksamer, wachsamer. Ihre Amygdala, der Teil des Gehirns das für Angst zuständig ist, ist überaktiv. Mehr Adrenalin (Kurzzeitstresshormon) und Cortisol (Langzeitstresshormon) sind im Umlauf und führen zu einem Hyperarousal (hohe Anspannung, Stress, Reizbarkeit, Affektregulationsprobleme), was sie umgangssprachlich gesagt überempfindlich, hypersensibel oder reizbar und launisch macht. Oder aber es führt zu einer Adrenal Fatigue (Nebennierenschwäche), was depressive Verstimmungen, Antriebslosigkeit, Trägheit und Burnout zur Folge haben kann. Abgestumpft.
Was ist, wenn wir uns aus so einem Zustand – sei dieser bereits ein Leben lang anhaltend oder eine Phase – herauswinden? Dann finden wir mithilfe von Lebensumstellung, Achtsamkeit, Therapie, Coaching usw. uns selbst, können verarbeiten, loslassen und Grenzen setzen. Dann merken wir erst wirklich, wie sensibel wir Menschen eigentlich sind. Wir spüren, wie viel wir fühlen, wie viel in uns und um uns herum geschieht. Wir spüren die Natur, die Tiere, den Puls der Erde. Wir sind mit unseren Emotionen verbunden, fühlen sie klar und deutlich und sehen darum auch bei anderen, was sie fühlen und wie es ihnen geht. Wir spüren die Disharmonie, wenn andere verkrampft lächeln und behaupten, es gehe ihnen gut. Und wir sehen deutlich, dass etwas nicht mehr stimmen kann, wenn ein Staatsoberhaupt zu Krieg aufruft.
Sie wir deswegen hochsensibel und sie «normal»…? Come on.
Und vielleicht muss ein Kind gar nicht erst traumatisiert werden, um dann später als Erwachsener über mühselige Bewusstseinsarbeit wieder herauszufinden, dass er eigentlich sehr empfindsam ist.
Es ist wahr, dass wir nicht alles jederzeit fühlen und damit umgehen können. Wir lernen erst noch. Doch es ist an der Zeit, dass wir Hochsensibilität aus der «Spezial-»Ecke hervorkramen, sie hinstellen und anerkennen. Als Qualität, die uns Menschen naturgegeben innewohnt, die zur Förderung von Gemeinschaft, Achtsamkeit, Wohlbefinden und Nachhaltigkeit dient, die unerlässlich für das Weiterkommen einer gemeinsamen Welt ist und vor allen Dingen, wenn abhanden, (wieder-)erlernt werden kann.
Wie ich mit meiner Sensibilität umgehe
Sich selbst zu kennen und zu akzeptieren, ist der wichtigste Schlüssel im Umgang mit (Hoch-)Sensibilität. Zu wissen, wer ich bin und was ich brauche, ist ein essentieller Bestandteil meiner täglichen Lebensführung. Auch Grenzen ziehen zu können, es «auszuhalten», andere zu enttäuschen oder etwas nicht zu tun, wenn es wichtig für mich ist, ist entscheidend für mein Wohlbefinden. Die enge Verbundenheit mit meiner Wahrnehmung, den Empfindungen und Emotionen, genauso wie eine tiefe Verankerung meiner Werte, meiner Bedürfnisse und Wünsche gehören ebenfalls dazu. Eine Vision, die mir Kraft spendet, und Menschen, mit denen ich mich einfach wohlfühle.
Genau das – und noch viel mehr – baue ich mit dir für dich im transformierenden Online-Coaching-Kurs METAMORPHOSIS auf. Der nächste Start ist am 10. August. Erfahre hier mehr darüber.